20
Dezember
2023
|
12:02
Europe/Amsterdam

Was erklärt die hohe Lebenserwartung in Japan?

Lesedauer: 5 minuten

Im September 2022 bescheinigte der World Population Review Japan die zweithöchste Lebenserwartung weltweit. Nur Hongkong kann die durchschnittliche japanische Lebenserwartung von 84,67 Jahren knapp übertreffen. Aber was sind die Gründe dafür? Liegt es an der Ernährung? Sozialen Gewohnheiten? Bewegung? Genetik? Oder einer Kombination all dieser Faktoren?

Das Rätsel von Okinawa

Im ländlichen Norden der Hauptinsel Okinawa liegt das Dorf Ogimi mit 3.000 Einwohnern. Selbst angesichts der beeindruckenden Lebenserwartungsstatistik Japans scheint hier etwas ganz Besonderes zu geschehen. Bei der letzten Zählung waren 15 Dorfbewohner 100 Jahre oder älter und 171 im neunten Lebensjahrzehnt. Dan Buettner, ein Autor auf der Bestsellerliste der New York Times und Entdecker im Auftrag der Zeitschrift National Geographic, prägte den Begriff „blaue Zone“ für die fünf Orte der Welt, in denen Menschen ein besonders langes und glückliches Leben führen. Was können wir von Okinawa und von Japan als Ganzem über das Geheimnis eines langen und gesunden Lebens lernen? Die Menschen dort erleben schließlich die gleichen Probleme wie Menschen auf der ganzen Welt – Krieg, familiäre Schwierigkeiten, Trauer, Verlust, finanzielle Sorgen. Sie kennen genau die gleichen Stressfaktoren wie wir. Was können wir also von ihnen lernen?

10 Gründe, warum Japaner ein langes, gesundes Leben führen

1. Genetik

Craig Willcox, Professor für öffentliche Gesundheit und Gerontologie an der internationalen Universität Okinawa, untersucht seit fast fünf Jahrzehnten die hohe Lebenserwartung der Einwohner. Als einer der leitenden Wissenschaftler der Okinawa Centenarian Study befragte er über 1.000 Personen über 100 Jahre sowie Hunderte Menschen im 70., 80. und 90. Lebensjahrzehnt, um dem in Okinawa beobachteten Gesundheitsphänomen auf den Grund zu gehen. Die Studie sucht nach Gemeinsamkeiten in den Bereichen Ernährung, Bewegungsgewohnheiten, Genetik, psychologische und spirituelle Praktiken sowie Sozial- und Verhaltensmuster. Professor Wilcox kam zu dem Schluss, dass „etwa zwei Drittel der Lebenserwartung mit Ernährung und Lebensweise in Zusammenhang stehen, der Rest mit Genetik.“

2. Nährstoffreiche Lebensmittel

Die Bedeutung der Ernährung für die Gesundheit sollte nicht unterschätzt werden. Wir brauchen Vitamine und Mineralstoffe, um Krankheiten und Infektionen zu bekämpfen, und müssen die Kalorienaufnahme begrenzen, um Fettleibigkeit und Entzündungen vorzubeugen. Einwohner von Okinawa verzehren mehr als die fünf empfohlenen Portionen Obst und Gemüse täglich und bevorzugen Fisch statt Fleisch. Süßkartoffeln ersetzen Reis als Grundnahrungsmittel. Sie enthalten viele Nährstoffe, aber wenige Kalorien. Carotinoidreicher Seetang und stark eisenhaltiges grünes Blattgemüse tragen zur Reduzierung von Entzündungen und oxidativem Stress bei.

3. Matcha-Tee und seine Vorteile

Die Japaner trinken viel Tee und insbesondere Matcha-Tee. Matcha wird auch bei uns immer beliebter und sein hoher Nährstoffgehalt und seine antioxidanten Effekte werden bekannter, aber Japaner trinken ihn bereits seit Jahrhunderten. Das Geheimnis dieses überlieferten Getränks liegt in seiner Herstellung: Die jungen Blätter der Teepflanze werden vor Sonnenlicht geschützt, während sie wachsen, um den Gehalt an Chlorophyll und Antioxidantien zu erhalten. Die traditionelle japanische Teezeremonie ist mehr als 1.000 Jahre alt, und Japaner trinken mehrmals täglich Tee.

4. Vermeidung von Zucker

Die japanische Küche ist eher herzhaft als süß. Natürlich gibt es auch in Japan Desserts, aber sie sind einfach nicht so beliebt wie Desserts bei uns. In Japan werden Zucker und Nahrungsmittel wie weiße Kartoffeln mit ihrem hohen natürlichen Stärkegehalt in weitaus geringeren Mengen konsumiert als hier. Neben Matcha-Tee trinken Japaner oft auch grünen Tee ohne Zucker und Milch, die häufig zu schwarzem Tee gegeben werden. Aufgrund der zuckerarmen Ernährung neigen weniger Japaner zur Fettleibigkeit und vermeiden auch andere negative Auswirkungen des Zuckerkonsums wie Entzündungen, Bluthochdruck und Diabetes – alles Risikofaktoren für Herzinfarkte und Schlaganfälle.

5. Hara hachi bu – Essen in Maßen

In vielen Teilen der Welt wird Quantität als Zeichen für Qualität aufgefasst, doch die Esskultur in Japan ist in Bezug auf Portionsgrößen deutlich zurückhaltender. Hara hachi bu ist der Brauch, in Maßen zu essen und aufzuhören, wenn man zu etwa 80 Prozent gesättigt ist. Bei den Mahlzeiten geht es nicht allein um das Essen, sondern darum, das Erlebnis des Essens mit anderen zu teilen. Sie sind eine Zeit für Kommunikation und Reflexion, nicht für Gier. Kulturelle Gewohnheiten lassen sich nicht ohne Weiteres ändern, aber wir könnten uns durch kleine Änderungen dem Hara hachi bu annähern, indem wir langsamer essen, jeden einzelnen Bissen achtsam erleben und kleinere Teller verwenden, damit kleinere Portionen sättigender aussehen. Das Gehirn braucht rund 20 Minuten, um Sättigung zu erkennen. Es ist daher durchaus sinnvoll, das Essen zu beenden, bevor Sie sich völlig satt fühlen.

6. Gesundheitswesen

Vor rund 60 Jahren setzte die japanische Regierung eine umfassende Gesundheitsinitiative um, investierte in Impfprogramme zum Schutz von Kindern und führte 1961 eine allgemeine Krankenversicherung ein. Alle haben den gleichen Zugang zur Gesundheitsversorgung, deren Kosten vom Staat, von Arbeitgebern und von den Einzelpersonen getragen werden. Regelmäßige Gesundheitschecks sind an der Tagesordnung, und an Schulen und Arbeitsplätzen führen die örtlichen Behörden ebenfalls allgemeine Gesundheitsprüfungen durch. Auch die Privatwirtschaft fördert die Gesundheit. In Matsumoto, der zweitgrößten Stadt der Präfektur Nagano, bietet eine Bank beispielsweise Vorzugszinsen und Anreize wie Wochenendausflüge zum Disneyland in Tokio für diejenigen an, die drei Jahre in Folge einen Gesundheitscheck durchlaufen haben.

7. Die Bedeutung des Ikigai – Lebenszwecks

Ikigai bezeichnet das Konzept, den Zweck des Lebens zu finden und zu erhalten. Diese überlieferte Philosophie ist mit dem „joie de vivre“ in Frankreich oder dem „hygge“ in Dänemark vergleichbar und lässt sich grob als „Ihr Grund zum Leben“ übersetzen. In einer alternden Bevölkerung, wie z. B. in Okinawa, erhalten ältere Mitbürger(innen) Aufgaben wie das Weben der traditionellen Basho-Fu-Textilien, sodass sie sozial und mental aktiv bleiben, ein Einkommen verdienen und zur lokalen Wirtschaft beitragen. In Japan ist man der Ansicht, dass ein Lebenszweck unerlässlich für ein erfüllendes Leben ist. Dieser Zweck lässt sich in vielen Aspekten des Lebens finden, zum Beispiel gut und gesund essen, anderen Menschen helfen oder sich mit Freunden und Familie umgeben.

8. Moai – gegenseitige Unterstützung

Das japanische Unterstützungssystem bringt Menschen mit gemeinsamen Interessen zusammen, um die Entwicklung tiefer emotionaler Verbindungen und das Gemeinschaftsgefühl zu fördern. Eine Gruppe oder Moai kann beispielsweise aus alten Freunden, ehemaligen Kollegen oder einfach aus Personen gebildet werden, die Interesse an demselben Hobby oder Sport haben. Es ist üblich, zu einer Reihe von verschiedenen Moai zu gehören. Die Vorteile eines Moai für ältere Menschen liegen auf der Hand, aber Moai stehen allen Altersgruppen offen. Japaner bleiben ihren Moai in der Regel über lange Jahre treu, manchmal von der Schule bis ins reife Alter. Gemeinsamen Interessen im Gespräch oder auch aktiv nachzugehen, fördert den Stressabbau und wirkt der Vereinsamung entgegen, die ältere Menschen sonst oft erleben.

9. Bewegung

Japaner bleiben oft bis ins hohe Alter körperlich aktiv. Es gibt Wanderwege durch Städte und Parks sowie im ganzen Land Gemeindegruppen und Nachbarschaftsverbände, die Gruppenwanderungen organisieren. Weil mehr Menschen mit öffentlichen Verkehrsmitteln als mit dem Auto pendeln, bewegen sie sich automatisch mehr.

10. Achtsamkeit und Stressabbau

Das Konzept der Achtsamkeit sowie die Vorteile des bewussten Erlebens der Natur sind in Japan sehr bekannt. Das Waldbaden oder Shinrin-yoku, das weltweit immer beliebter wird, stammt aus Japan, wo es in den 1980er Jahren als physiologische und psychologische Übung entwickelt wurde, um die Entspannung zu fördern und den Bezug zur Natur wiederherzustellen. Waldbaden ist nicht schwer: Sie nehmen sich einfach eine Auszeit unter Bäumen, beobachten die die Natur und atmen tief durch, um Stress abzubauen und auf natürliche Weise die Gesundheit und das Wohlbefinden zu stärken. Mit rund 3.000 km natürlichem Waldgebiet ermutigt die japanische Regierung die Bürger aktiv, Bäume als Therapie zu nutzen.  

Wir alle würden gerne das Geheimnis kennen, wie man bis ins hohe Alter jung bleibt. Der Blick auf Japan zeigt uns, dass es vielleicht gar kein Geheimnis ist. Zwar spielt die Genetik wahrscheinlich eine Rolle, aber es gibt klare Anzeichen dafür, dass der verantwortungsvolle Umgang mit der eigenen Gesundheit, das Anregen des Gehirns und die Interaktion mit anderen Menschen das Beste sind, was wir für ein langes und gesundes Leben tun können.

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